Wenn wir sehen, sehen wir subjektiv, das heißt, es ist unentkoppelbar von unseren anderen Sinnen, wir sehen selektiv, wir lassen Stimmungen und Erfahrungen entscheiden, was wir sehen, und wie wir das Gesehene wo in unsere Leben einordnen.
Ein Baum macht Geräusche, verbreitet Gerüche, man kann ihn fühlen, er kann fühlen und hat eine Geschichte, im Kontext andere Geschichten, er kann ein Brett werden, ein Vogel kann in ihm wohnen, Würmer können ihn auffressen, er kommuniziert mit anderen Bäumen, er verwandelt Licht in Zucker. Er verwandelt schlechte Luft in gute Luft. Es gibt also nicht ein Bild eines Baumes, ein Baum ist nicht neutral, er ist gütig, aber parteiisch, er interpretiert, weil wir ihn interpretieren. Und auch als Nest oder Brett oder Tisch ist er weiterhin und anders belebt, alles diffundiert in alles, in einem riesigen kosmologischen Kontext, in dem Blicke fließen wie Wellen, die niemals ankommen. Macht ein Baum ein Geräusch, wenn er umkippt, aber niemand zuhört?
Dagegen sind unsere Leben kaum wahrnehmbare Wimpernschläge einer winzigen Kieselalge, wenn sie Wimpern hätte.
Astrid Köppes Zeichnungen und Emaille-Arbeiten bewegen sich genau in diesem Transitraum, wie von einer Wimper ausgedacht und einer zweiten Wimper gemalt, was ist noch organisch, wo manifestiert sich die filigrane Behauptung zur nicht minder filigranen Wirklichkeit, Interpretationen bleiben flüssig wie unsere Blicke, die die Sicht auf die Dinge abwarten. Muss wahr werden, was wahr werden könnte, oder muss alles in durchaus sexy Ratlosigkeit erstarrt bleiben? Wann wird aus einer Idee ein Kuss, und also wahr? Eine Antwort auf eine Frage, die man entweder niemals gestellt hat, oder immer zu fragen vermieden hat, eine amorphe Frage, und den Kuss im Transitraum genießt man demnach umso mehr, trinkt ihn geradezu gierig wie ein Löschpapier.
Das Bild taucht auf, verschwindet, entscheidet sich zu bleiben, Form zu werden vielleicht, gekommen um zu bleiben, intensive Küsse, man stelle sich zwei küssende Kieselalgen vor, haben sie sich wirklich geküsst, auch wenn es niemand gesehen hat?
Vielleicht hat ein Baum zugesehen, und er rauscht, er weiß mehr als wir, und dieses Wissen, das ist die Kunst von Astrid Köppe. Und jetzt lächelt sie.
Tex Rubinowitz, Wien, Oktober 2019